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"Ich denke in Linien"

Das Alphabet ist Chris Campes kreativer Spielplatz. In ihrem Studio kreiert sie außergewöhnliche Schrift für Buchtitel, Logos, Wände oder Schaufenster. Mit uns spricht die Gestalterin über politische Haltung, Inspiration und ihre Learnings aus mehr als einem Jahrzehnt der Selbstständigkeit.

"Ich denke in Linien" -

Wer den Venusberg nahe des Portugiesenviertels entlangspaziert, bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem ganz bestimmten Schaufenster hängen. Neben der Hausnummer 22 erstrecken sich Buchstaben über die holzgerahmte Glasfassade, welche im Sonnenlicht spielerische Schattierungen in den dahinter verborgenen Raum werfen. Wenn man Glück hat, erspäht man im Inneren Schriftgestalterin Chris Campe, mit schwarzem Filzstift über eins ihrer vielen Notizbücher gebeugt.

Als wir sie besuchen, erzählt Chris uns erst einmal, was sie alles nicht macht. Keine Computer-Fonts, keine Hobby-Basteleien. Sondern: Schrift für individuelle Verwendungszwecke. Zum Beispiel Buchtitel, Logos, Wände oder Schaufenster. Dazu kommt eine ganze Reihe eigener künstlerischer Projekte. Chris sind Klarheit und Menschlichkeit wichtig. Das merkt man im Gespräch mit ihr – und in ihrer Arbeit.

Das schöne Studio am Venusberg hat sie bereits seit 2014. Dass das Schaufenster keine leere Scheibe bleiben darf, war ihr schnell klar. Zuerst füllte sie es mit Pappbuchstaben, die Textzeilen aus Songs der 80er-Jahre bildeten. Vorbeilaufende blieben stehen, rätselten die Songtitel, sangen mit. Hier wollte niemand etwas verkaufen, und das kam an. Inzwischen malt Chris außergewöhnliche Variationen des Alphabets auf die Scheibe – und verbildlicht so den Namen ihres Büros, All Things Letters.

Warum es ihr wichtig ist, als Gestalterin politische Haltung zu zeigen, wo sie im Alltag Inspiration findet und was sich in mehr als zehn Jahren Selbstständigkeit verändert hat, erzählt Chris uns im Interview.

Liebe Chris, hast du eigentlich einen Lieblingsbuchstaben?

Eigentlich nicht, aber manche Buchstaben geben schon etwas mehr her. Mit einem R kann man total viel machen, weil es so unterschiedliche Formen in sich hat.

Was fasziniert dich generell an Schrift?

Schrift ist die Schnittstelle von Form und Inhalt. Das Alphabet ist immer gleich, die Struktur ändert sich nicht, aber ich kann das ganz unterschiedlich ausarbeiten. Es gibt Konventionen, wie ein A aussieht – zwei Diagonalen mit einer Horizontalen – und dann kann ich schauen: Wie kann ich das noch zeichnen? Das gibt mir ganz viele Ausdrucksmöglichkeiten.

Du hast Illustration studiert und bist eigentlich gelernte Buchhändlerin. Wie bist du in der Schriftgestaltung gelandet?

Die Ausbildung zur Buchhändlerin war ein kleiner Zufall, der durch ein Praktikum entstanden ist. Mir wurde allerdings recht schnell klar, dass ich auf die Dauer nicht täglich im Laden stehen möchte. Nach einigem Schwanken zwischen Design und Journalismus habe ich mich für das Illustrations-Studium entschieden und bin danach zur Schrift abgebogen. Einerseits, weil ich keine Lust mehr hatte, Figuren zu zeichnen, andererseits, weil ich schon immer gern geschrieben habe. Bei meinen Projekten kann ich jetzt selbst Texte schreiben und diese dann gestalten.

"Genau das ist der Witz: Die Vorstellung im Kopf loslassen, zugunsten von dem, was ich auf das Papier gebracht habe."

Hast du schon immer gern gezeichnet?

Zeichnen war das Einzige, was ich immer wieder probiert habe, obwohl es nie so geworden ist, wie ich es wollte. Der Unterschied zwischen den Ideen in meinem Kopf und den Ergebnissen auf dem Papier war immer eklatant. Irgendwann habe ich aber verstanden: Genau das ist der Witz. Die Vorstellung im Kopf loszulassen, zugunsten von dem, was ich auf das Papier gebracht habe.

Ist denn der Großteil deiner Arbeit händisch?

Ich zeichne durchaus auch digital. Auf dem iPad geht es schön schnell, verschiedene Farben in Formen zu klicken. Trotzdem habe ich früh entschieden, dass ich analog arbeiten will. Mir gefällt, dass alles sichtbar bleibt, selbst wenn ich radiere.

Wie verändert KI dein Verhältnis zum digitalen und analogen Arbeiten?

Je mehr Aspekte des Lebens digital sind, umso wichtiger wird das Menschliche. Ich glaube, analoges Arbeiten wird deshalb wieder mehr an Wert, Zuspruch und auch Reiz gewinnen. Mit meiner Arbeit kann ich Individualität, Authentizität und Liebe zum Detail vermitteln. Die KI kann das nicht.

"Lange dachte ich, meine politische Haltung darf keine Rolle in meiner Selbstständigkeit spielen."

Du positionierst dich öffentlich auch politisch. Warum ist es dir wichtig, als Gestalterin Haltung zu zeigen?

Ich war schon immer ein politischer Mensch. Lange dachte ich aber, das darf keine Rolle in meiner Selbstständigkeit spielen. Damit öffentlicher umzugehen, hat sich mit den großen Demos gegen die AfD ergeben. Ich hatte ein Schild für eine der ersten Demos gemalt und es in einer Instagram-Story geteilt. Die Resonanz darauf war riesig. In den letzten anderthalb Jahren haben meine Demoschilder total weite Kreise gezogen. Meine Sorge war, dass es Leute abschreckt, wenn ich meine politischen Ansichten so deutlich teile. Aber das ist überhaupt nicht passiert. Ganz im Gegenteil: Es schreckt die Leute ab, mit denen man sowieso nichts zu tun haben will, und zieht die anderen an, die sagen „ja, find ich auch“. Es ist schön zu merken, dass ich mit meiner Arbeit Dinge artikulieren kann, die viele andere auch denken.

Wo findest du im Alltag Inspiration?

Für mich hat Inspiration ganz viel damit zu tun, aufmerksam zu sein. Ich achte auf Details und stelle mir dazu Fragen. Das geht deutlich besser, wenn ich nicht ständig aufs Handy schaue. Ich quatsche ständig Leute an, um mehr über die Dinge zu erfahren, die mir auffallen.

Wie werden aus Inspirationen dann konkrete Projekte?

Häufig entwickle ich die Ideen in meinen Skizzenbüchern. Ich zeichne etwas, dann ist vielleicht ein Strich schief, und daraus ergibt sich schon die nächste Idee.

Viele deiner Arbeiten sind schwarz-weiß. Welche Rolle spielt Farbe in deinem Prozess?

Ich bin einfach Zeichnerin und komme absolut von der Linie. Meine Freundin malt, sie denkt in Flächen. Ganz anders als ich. Ich denke in Linien. Farbe ist ein Fass, dass ich oft lieber gar nicht erst aufmache. Schrift ist zumeist schwarz auf weiß, weil es um die reine Form und den maximalen Kontrast geht. Aber ich habe nichts gegen Farben – ich mag Farben.

"Sich die Zeit, das Geld und den Raum für eigene Projekte zu nehmen, erfordert eine andere Art von Selbstvertrauen."

Inzwischen bezeichnest du dich nicht nur als Schriftgestalterin, sondern auch als Künstlerin. War das zu Beginn eine Überwindung?

Das ist für Menschen, die Design studiert haben, vermutlich am leichtesten nachzuvollziehen. Als Designerin bist du Dienstleisterin und löst Fragestellungen für Auftraggeber*innen. In der Kunst formulierst du eigene Fragen. Es war für mich ein Entwicklungsprozess, etwas zu machen, einfach weil ich selbst es wichtig finde. Sich die Zeit, das Geld und den Raum dafür zu nehmen, erfordert eine andere Art von Selbstvertrauen.

Wie setzt du das in der Praxis um?

Bei eigenen Projekten habe ich mehr kreative Freiheit, aber finanziell stärkere Zwänge. Da gilt es, eine Balance zu finden. Ich finanziere eigene Ideen zum Beispiel durch Aufträge oder Workshops quer.

Findest du, Hamburg ist eine gute Stadt für dich als Designerin?

Die Szene hier ist sehr dynamisch. Nach zwanzig Jahren in Hamburg passiert es mir immer noch, dass ich bei Veranstaltungen niemanden kenne, das finde ich echt erstaunlich. Es gibt viele Events, Vernetzung, Austausch, auch Nachwuchsförderung. Was mich ein bisschen nervt, ist dass es hier, weil es eine reiche Stadt und alles so teuer ist, immer schnell um Geld geht. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Freiräume schaffen, die keiner direkten Verwertbarkeitslogik folgen, sondern einfach für die Menschen da sind.

Du bist schon ziemlich lange im Business. Was hat sich in mehr als zehn Jahren Selbstständigkeit für dich verändert?

Es wird häufig über den Anfang der Selbstständigkeit gesprochen. Mich beschäftigt seit ein paar Jahren eher die „Artistic Midlife Crisis“. Welche Perspektiven lassen sich bei laufendem Betrieb schaffen? Wie entwickle ich mich weiter? Was mache ich, wenn meine langjährigen Auftraggeber*innen in Rente gehen? Ich kenne eine ganze Reihe von Kreativen Mitte vierzig, die sich ähnliche Fragen stellen.

Was bei mir heute aber auf jeden Fall anders ist, ist diese Verschiebung in Richtung eigener Arbeiten. Irgendwann verlieren Auftragsarbeiten an Reiz, dann möchte man anderes priorisieren und sich anders finanzieren.

Was war das wichtigste Learning?

Für mich hat es extrem gut funktioniert, mich zu spezialisieren. Das kam durch ein Coachingproramm der Kreativ Gesellschaft. Vorher habe ich immer gesagt: „Ich mache Illustrationen und Grafikdesign, ich kann auch eine Website, freie Kunst mache ich auch.“ Von diesem Gemischtwarenladen wollte ich weg. Jetzt sage ich immer: „Ich gestalte Schrift“. Das hat meinen Wiedererkennungswert gesteigert.

Videoproduktion: moodmacher+

Fotos: moodmacher+

Mehr erfahren: All Things Letters

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